1973 hatte Benjamin Brittens Opernversion von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig Uraufführung, zwei Jahre zuvor hatte Luchino Visconti seine Interpretation ins Kino gebracht. Beide verarbeiteten in diesen Werken ihre homoerotischen Neigungen, wie es ja 1911 auch schon der 36jährige Thomas Mann getan hatte. Visconti machte für die Leinwand aus dem Dichter Aschenbach einen an Gustav Mahler erinnernden Komponisten, Britten hielt sich in seiner Opernversion streng an die literarische Vorlage bis hin zur Endvision, in der der an Cholera erkrankte todkranke Dichter meint, der von ihm vergötterte Knabe Tadzio lächle und winke ihm zu, das, was er tagelang in Venedig erfolglos zu erreichen versucht hatte. Britten hatte in seinem Werk, in dem es vor allem um Schönheit und Ästhetik geht, Oper und Tanz kombiniert, so war es nur folgerichtig, dass die Oper Stuttgart nun die Regie für ihre Neuproduktion dem Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts, Demis Volpi, übertrug.
Der gefeierte Dichter Aschenbach ist in einer Sinn- und Schaffenskrise. Bei Volpi ist er – noch daheim in München – gefangen in einem Labyrinth aus Bücherbergen. So wie Britten sich streng an die literarische Vorlage gehalten hat, führt auch Volpi minutiös alle Etappen dieser Reise in den Tod vor – vor allem die unheimlichen Begegnungen mit einem hässlichen, abstoßenden und doch zugleich auch immer wieder faszinierenden älteren Mann. Britten zog diese mehrfachen Begegnungen – die schon bei Thomas Mann in Richtung einer mythischen Figur deuten, etwa des Fährmanns Charon, der die Toten in die Unterwelt fährt – zu einer einzigen von einem Bariton verkörperten Figur zusammen. Georg Nigl, der schon als Lenz in Wolfgang Rihms Opernversion der gleichnamigen Erzählung Triumphe als gespaltene Schriftstellerfigur gefeiert hat, verleiht ihr in Volpis Regie geradezu mephistophelische Züge. Er treibt die Handlung voran, er führt Aschenbach Schritt für Schritt in den Untergang. Am Ende liegt auf der Stuttgarter Bühne Aschenbach tot am Boden, der Fremde zieht seine schwarze Kapuze über und verschwindet langsamen Schritts im Schwarz des Bühnenhintergrunds.
Volpis Inszenierung ist voller subtiler Anspielungen. Wenn eine Gruppe von Jungen – aus denen einzig der schöne Tadzio durch vornehme Wohlerzogenheit herausragt – den alternden Schriftsteller verspotten, bewerfen sie ihn mit Seiten, die sie aus seiner Bücher herausgerissen haben. Der Pöbel weiß mit schöngeistiger Literatur nichts anzufangen.
Aschenbachs poetisches Credo ist apollinische Abgeklärtheit, daher seine Faszination durch den schönen, zurückhaltenden Knaben, daher sein Streben nach Form und Vornehmheit, die ihm immer mehr abhanden kommen, je mehr er sich von seiner Leidenschaft leiten lässt. Britten hat diesen bei Mann zentralen Dualismus zwischen Apollinischem und Dionysisch-Rauschhaftem dem Tanz überantwortet. Dionysos wird konsequenterweise von eben dem Sänger verkörpert, der auch die abstoßenden und doch zugleich faszinierenden alten Männer singt und spielt, Apollon von einem Sänger, der auch tanzen kann, Tadzio von einem reinen Tänzer. Der Choreograph Volpi hat dem Tanz eine ungleich größere Rolle zugeteilt – das alles aber mit in sich schlüssiger Konsequenz. So taucht, wenn der Hoteldirektor die Schönheit der Aussicht in Aschenbachs venezianischem Hotelzimmer preist, bereits Apollon – mit Goldbronze bemalt – auf, und wenige Minuten später vollführt Aschenbach dieselben Tanzbewegungen. Die Schönheit bestimmt hier noch ganz sein Denken und Agieren; umso krasser später sein Abfall in das rein Rauschhafte, wenn sein bis dahin kultiviert gekleideter Körper halbnackt mit Blut bestrichen ist. So sehr bestimmt Schönheit und Form das Denken diese Dichters, dass er, der unumwunden gesteht, sein Ziel sei es, Schönheit zu schaffen, die vier Mitglieder von Tadzios Familie mit den Händen drapiert, ihre Körper Ton in der Hand eines Bildhauers.
Kein Geringerer als David Moore, der Erste Solist des Stuttgarter Balletts, gestaltet diese Rolle in einer Mischung aus Tanz und statuarischer Erstarrung – auch das eine feine Umsetzung dessen, was bei Thomas Manns Aschenbach gleich zu Beginn als Verknöcherung in der Form angedeutet wird. In jeder Szene deckt Volpi hinter der vordergründigen Handlung symbolische Verbindungen auf, die er ganz aus der Musik und dem Libretto herausarbeitet.
David Moore (Apollon) Foto: Oper Stuttgart
Bei seinem großen Soloauftritt wirkt Apollon, als wäre er Shiva in der hinduistischen Religion – Thomas Mann, wiewohl er sich mit Apoll und Dionysos im Wesentlichen in der griechischen Mythologie bewegt, spricht vom Nirwana, und Benjamin Britten zitiert bei diesem Tanz die Gamelanmusik. Außerdem wird bei Volpi nicht nur Tadzio von einem Tänzer verkörpert, sondern die ganze Familie wird von Tänzern gespielt.Volpis Inszenierung folgt der konkreten Handlung und geht zugleich in jeder Szene den tieferen symbolischen Bezügen nach. Entsprechend hat Katharina Schlipf darauf verzichtet, in ihr Bühnenbild Anspielungen auf die Lagunenstadt zu integrieren. Das übernehmen bei ihr die Klischeetouristen, die bei Britten als Witzfiguren erscheinen. Schlipfs Bühne besteht weitgehend aus einem Labyrinth lauter sich drehender und bewegender Spiegel – einem Labyrinth, in dem Aschenbach, wenn er Tadzios Familie durch die Straßen von Venedig verfolgt, um den Jungen nicht aus den Augen zu verlieren, sich immer mehr verirrt. In diesem Bühnenbild findet das Auge nur selten Halt – ganz der Musik folgend, die bei Britten immer mehr ins Fließen gerät, wo Töne verschleifen, man immer weniger feste musikalische Formen ausmachen kann. Bühnenbild, Regie und Musik werden eins – ein Glücksfall auf der Opernbühne. Kirill Karabits entlockt dem Staatsopernorchester eine raffinierte Mischung aus subtilem Klangzauber und zunehmender Auflösung der Form.
Diese Wandlungsfähigkeit der Musik agiert Georg Nigl faszinierend aus. Jede der von ihm verkörperten sieben Figuren – sieben, auch Britten arbeitet mit Symbolen – hat bei aller charakterlichen Ähnlichkeit doch einen eigenen Charakter. Vor allem gelingt es ihm, dem Gondoliere, Hotelmanager und Straßensänger eine Italianitá zu verleihen, die aus den Figuren in einer Gratwanderung eine Mischung aus Seriosität und Karikatur macht. Matthias Klink schließlich wächst über sich hinaus. Sein schlanker Tenor dient sowohl dem Sehnenden des liebenden Dichters wie dem zunehmend Wahnhaften des durch seine Liebe pervertierten Anhängers der apollinischen Schönheit.
Matthias Klink (Aschenbach), Georg Nigl (Hotelmanager), David Moore (Apollon) Foto: Oper Stuttgart
Am Ende weicht Volpis Inszenierung von Brittens Libretto ab. Bei Britten ist der todkranke Aschenbach zu schwach, um dem geliebten Tadzio in einem Streit mit anderen Jungen zu helfen, und sieht ihn in einer Vision auf das Meer entweichen. Bei Volpi wischt der „Charon“ Apollon die Goldfarbe ab, verschwindet im Dunkel der Hinterbühne, Aschenbach bleibt tot am Boden liegen – um sich dann zu erheben und demonstrativ ins Publikum zu schauen. Damit erhält alles Vorangegangene eine neue Dimension: Die venezianischen Geschehnisse sind Kopfgeburten des Schriftstellers, dessen Schreibblockade durch das Venedigerlebnis offenbar aufgelöst ist, er hat seine neues Werk im Kopf, eben den Tod in Venedig. Von daher werden viele Details noch schlüssiger. Die Touristengesellschaft, die wie eine Karikatur der Realität wirkt, der in zahlreichen Rollen auftauchende hässliche Alte und jene kleine Szene, in der Aschenbach Tadzios Familie auf der Bühne in Form bringt: Jetzt ist es nicht nur der nach Schönheit Strebende, der ein Gebilde mit eigenen Händen verbessert, sondern der Autor, der seine Figuren erschafft.