Dass ein Handlungsballett auch politisch Stellung beziehen kann, liegt nahe, schließlich erzählt es eine Geschichte von Menschen. Dass auch abstrakte Choreographien politische Aussagen machen können, zeigt jetzt das neue Programm am Stuttgarter Ballett. „Tänzerische Höhepunkte“ waren angekündigt, und das war keine Übertreibung, doch als der Livestream begann, der eine geplante Premiere vor Publikum coronabedingt ersetzte, hatte der Abend den sehr viel konkreteren Titel „Angels and Demons“, und einen besseren hätte man sich zumindest für das Stück von Roland Petit kaum ausdenken können. Es hätte über dem Abend aber auch die Frage stehen können, was Frauen und Männer miteinander umtreibt.
Choreographie: Jiří Kylián Tänzer/Dancers: Ensemble © Stuttgarter Ballett
Als Jiří Kylián 1989 Falling Angels für das Nederlands Dans Theater kreierte, da bezog er schon durch die Besetzung politisch Stellung. Das Stück ist ein Plädoyer für die eigenständige, unabhängige Frau in der Gesellschaft. Er bringt ausschließlich Frauen auf die Bühne, die sich offenbar in ihre Rolle als partnerlose Existenzen erst einfinden müssen. So üben sie zu Beginn einzelne Posen ein, die mal an Gehen auf der Stelle erinnern, mal an ein Greifen nach der Außenwelt. Sukzessive freilich „erarbeiten“ sich diese Frauen ihre Position in der Welt und der Gesellschaft. Wie Hundertmeterläuferinnen laufen sie auf das Publikum zu, aber in Zeitlupe, und schon in den ersten Sekunden schafft Kylián jene Doppelbödigkeit, die uns vom Traum her bekannt ist, in dem wir nicht selten fliehen wollen (wovor?), und doch nicht von der Stelle kommen. Vertraute Bewegungen wie Schritte, Drehungen, Armeheben werden unmerklich verändert – Kylián greift in jeder Sekunde seines Werks die feinsten rhythmischen Veränderungen auf, die Steve Reich in seinem minimalistischen Schlagzeugstück Drumming Part 1 meisterhaft einsetzt. So wie die Musik auf der Stelle zu treten scheint und sich doch ständig verändert, verwandeln sich die Bewegungsfolgen bei Kylián, loten Extreme aus – auch inhaltlich, denn acht Tänzerinnen treten zwar immer wieder als Gruppe uniform auf, sondern sich aber immer wieder einzeln aus der Gemeinsamkeit aus, suchen eigene Wege, und scheitern dabei nicht selten.
Dabei stellen sich die Figuren immer wieder auch die Frage, ob das, was sie da tun, richtig ist, denn der Titel des Stücks Falling Angels legt ja die Assoziation an ein falsches Beharren auf dem eigenen Weg nahe, und immer wieder deuten kleine Bewegungen die Nähe zu Flügeln und zum Fliegen an.
Choreographie: Jiří Kylián Tänzer/Dancers: Ensemble © Stuttgarter Ballett
Mit dem nächsten Kylián-Stück des Abends scheint sich eine Gegenwelt aufzutun. Diesmal bevölkern zunächst ausschließlich Männer die Bühne, und sie tun es auch ausgesprochen viril. Jeder hat einen Degen in der Hand, der gelegentlich auch ganz martialisch mit deutlich hörbarem Pfeifen durch die Luft gezogen wird. Zunehmend sehen sie in ihren Kampf- oder auch Sportgeräten Partner, Gegenüber, mit denen sehr viel subtilere, künstlerische Bewegungsabläufe möglich werden. Spielerisch heben sie die Degen mit dem Fuß in die Luft, umkosen sie – bis sie sie nicht mehr nötig haben, denn nun treten sechs Frauen in ihre Mitte, neue Partnerinnen, die eigentlichen, die sich durchaus selbstbewusst auch der männlichen Kampfgeräte bedienen, wenn auch auf ihre Art, fantasievoller, gefühlvoller. Außerdem haben sie ihre eigenen Accessoires, schwarze barocke Reifröcke, die sie mal wie Requisiten vor sich stellen, dass es aussieht, als hätten sie sie angezogen, mal aber auch einfach beiseiteschieben.
Männer und Frauen, das sind hier zwei sehr unterschiedliche Welten, die aber zunehmend miteinander in Berührung kommen (wie man das in Coronazeiten bewerkstelligen konnte, steht leider im Besetzungszettel nicht). Für die Premiere ist dafür die Spitzenbesetzung des Stuttgarter Balletts auf die Bühne gekommen. Dabei ist Intimität, auch Sexualität durchaus angedeutet. „Petite Mort“ nennt Kylián sein Stück, eine Umschreibung für den Orgasmus, doch in dieser Hinsicht bleibt die Choreographie eher zurückhaltend.
Das sieht beim letzten Stück des Abends schon sehr viel anders aus, obwohl es über siebzig Jahre alt ist. 1946 hat Roland Petit nach einem Libretto von Jean Cocteau eine Zweierbeziehung auf die Bühne gebracht, in der es durchaus deutlich zur Sache geht. Zu Beginn freilich ist von der Zweierbeziehung nur ein Teil zu sehen – ein junger Künstler, der seiner verloren geglaubten Geliebten nachtrauert. Das hätte schwülstig-kitschig ausfallen können, doch wie Petit mit rein abstrakten Bewegungsmustern die Einsamkeit und Verzweiflung des Mannes ausdrückt und doch auf pantomimische Schauspielerei gänzlich verzichtet, ist ein Meisterstück und wirkt auch heute noch kein bisschen angestaubt. Beiden tänzerischen Aspekten dieser Rolle wird Ciro Ernesto Mansilla mustergültig gerecht.
Choreographie: Roland Petit Tänzer/Dancers: Hyo-Jung Kang, Ciro Ernesto Mansilla © Stuttgarter Ballett
Als dann seine Geliebte doch auftaucht, ist er selig: Sein Engel ist bei ihm geblieben, doch dieser „Engel“ erweist sich alsbald als Teufelin oder auch als Dämon, insofern ist der Titel Angels and Demons für diesen Ballettabend treffend gewählt. Diese junge Dame (grandios im Wechselspiel zwischen gespielter Zuneigung und spöttisch-herablassender Ablehnung Hyo-Jung Kang) treibt mit dem jungen Mann ein Spiel und erweist sich am Ende als Todesengel.
So ist dem Stuttgarter Ballett ein Abend gelungen, der trotz unterschiedlicher Ballette und Ballettstile eine erstaunliche inhaltliche Geschlossenheit aufweist und in der Tat Höhepunkte des Tanzes präsentiert.