Bedient sich heute ein Komponist bei Werken eines anderen, muss er mit einem Plagiatsprozess rechnen. In früheren Epochen galt derlei Treiben als legitim, ja als Ausdruck hoher Wertschätzung für den Kollegen. So verarbeitete Johann Sebastian Bach ganze Konzerte seines Kollegen Vivaldi. In dieser Hinsicht dürfte sich Franz Schubert nicht beklagen. 1916 nahm sich Heinrich Berté ein Dutzend von Schuberts beliebtesten Melodien, unterlegte sie teils mit neuem Text und machte eine Operette daraus. Siebzig Jahre nach ihm verband Luciano Berio drei sinfonische Sätze von Schubert mit eigenen Zwischenteilen. Dass Johanna Doderer jetzt in einer Oper über Schubert auch dessen Musik erklingen lässt, ist da nur konsequent, sie freilich wählte einen noch raffinierteren Weg als Berio.
Daniel Prohaska © Christian POGO Zach
Dieses Verfahren führt gleich zu Beginn in das Wesen dieser Oper ein. Es geht um Kreativität, um Musikschöpfung und um die Einsamkeit, die damit verbunden sein kann. Schubert sitzt allein auf der Bühne, neben sich eine Weinflasche, und sucht verzweifelt den Weg aus einer kompositorischen Sackgasse bei der Entstehung seiner „Wandererfantasie“, die in Fetzen aus dem Off ertönt, dieweil er die Noten hinschreibt. Das ist original Schubert, doch er kommt nicht weiter, landet in Dissonanzen. Doderer zeigt, dass Schubert keineswegs alles leicht zugefallen ist, dass er ein harter Arbeiter an den Noten war – und lässt fast unmerklich die Schubertschen Klänge in eigene übergleiten, in diesem Fall zerfahrene, gespenstische Klänge. Johanna Doderer hat eine sehr farbenreiche Partitur geschrieben, in der atmosphärisch viel geschieht. Das gilt vor allem für die beiden grandiosen Traumvisionen der Titelfigur.
Holger Ohlmann, Ensemble © Christian POGO Zach
In der einen stellt er sich vor, wie er heldenhaft die geliebte Josepha vor Wegelagerern rettet, in der zweiten, noch eindrucksvolleren stellt er sich seinem tyrannischen Vater entgegen, der in diesem Fall miserabel Geige spielt und dann von seinem Sohn attackiert und musikalisch übertroffen wird. Regisseur Josef E. Köpplinger arbeitet hier mit Videoüberblendungen und in der ersten Vision mit einer herrlich überzeichneten aus dem Bühnenhimmel herabschwebenden Heldenfigur mit rot aufblinkendem Lebkuchenherz vor der Brust, denn auch wenn Schubert ein Meister der Musik war, so war er doch ein Versager im Alltag, von allem in der Liebe. Auf der – historisch verbürgten – Reise nach Atzenbrugg, aus der die Haupthandlung der Oper besteht, versucht zwar sein Freund Kupelwieser, ihm zu zeigen, wie er sich der geliebten Josepha nähern soll, doch mehr als ein Stottern bringt er nicht heraus. „Ver-stum-men-tu-ich-auch“ lässt Johanna Doderer ihn abgehackt singen. Daniel Prohaska charakterisiert diesen in sich verschlossenen, zerquälten Charakter großartig, mit manchmal bewusst rauem Tenor, was die Verzweiflung besonders herausstellt, die auch die Komponistin ins Zentrum stellt.
Andreja Zidaric © Christian POGO Zach
Demgegenüber singen die biedermeierlichen Freunde selbstzufrieden, in sich ruhend, vor allem Timos Sirlantzis stattet den Schubertfreund Vogl mit warmem Bariton aus und Andreja Zidaric brilliert, wenn sie ihren Kunstvogel im Käfig mit virtuosen Koloraturen ansingt.
An dieser Stelle ist Peter Turrini denn auch ein richtiges Opernlibretto gelungen, denn hier gibt er die Möglichkeit zu einer Arie, ansonsten fehlen seinem Text die opernnotwendigen Ingredienzien wie Duette und Ensembleszenen. Letztlich hat er ein Theaterstück geschrieben – ein großartiges, das auch das soziale Umfeld mit den Kriegsversehrten der napoleonischen Kriege aufgreift und die persönliche Tragik der Titelfigur wunderbar mit Worten ausdrückt. Das wiederum stellte Johanna Doderer vor das Problem, ein reines Konversationsstück in Töne zu setzen. Da werden dann Alltagssätze hochdramatisch auskomponiert, doch Formulierungen wie: „Der Wagen mit dem Schubert müsste schon längst da sein“ gehören nicht in ein Opernlibretto und dürfen auch nicht auskomponiert werden wie eine Seelenklage. Hier rächt sich, wenn ein Text fertig ist, ehe die Komposition beginnt. Wie ein solcher Prozess aussehen sollte, zeigen die Korrespondenzen zwischen Mozart und da Ponte oder Verdi und Boito.
In der zweiten Hälfte setzt sich dann die Kunstform Oper besser durch. Hier konzentriert sich das Stück zunehmend auf die Titelfigur, ihre Isolation, ihre Unfähigkeit, im normalen Alltag zu bestehen. Johanna Doderer schafft hier kompositorische Fixpunkte, hält die Zeit an durch mehrfache Satzwiederholungen, was die Verzweiflung, auch die Erstarrung Schuberts in der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, der immer nur glückliche Momente erlebt, wenn er seiner Musik lauscht, die immer wieder im Original eingeblendet wird. Am Ende steht er als Wrack auf der Bühne, allein, die Perücke ist ihm abgefallen. Er schreit nach seiner Geliebten, die sich soeben mit einem anderen verlobt hat, und steht allein da, umgeben von seiner Musik in Form von Stapeln von Notenblättern. Minutenlang ertönen die herzzerreißenden Klänge seines Streichquartetts. Am Ende siegt der Komponist, es scheitert der Mensch. Die Musik ist seine Partnerin, die Frau ist es nicht.
Der Stream der Premiere ist bis 7.5.2021 abrufbar
https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/schuberts-reise.html?ID_Vorstellung=2973&m=455