Dem 19. Jahrhundert galt sie als Urbild heimischer Geborgenheit – die Familie. Für die 68-Generation war sie der Inbegriff der Spießigen. In den Jahrzehnten steigender Scheidungsraten wurde sie nicht selten totgesagt, bei derzeit sinkenden Scheidungsquoten scheint sie wieder aufzuleben, ist aber längst nur noch eine Form engen Zusammenlebens neben Patchwork-, Regenbogen- oder multinationaler Familie. Eine Ausstellung in der Villa Merkel in Esslingen zeigt auf, wie Künstler von heute auf das Phänomen reagieren.
Was für ein Ritual! Alle fünf Jahre trifft sich der Performancekünstler Ragnar Kjartansson mit seiner Mutter zu einem absonderlich anmutenden Spektakel: Die Mutter spuckt ihn im elterlichen Wohnzimmer an und Kjartansson hält das Geschehen auf Video fest: 2000, 2005, 2010, 2015 – Mutter und Sohn verändern sich, altern, das Ritual bleibt dasselbe. Ein Zeichen von tief empfundenem Hass? Abreaktion geheimer Wünsche? Oder seltsamer Ausdruck familiärer Verbundenheit – Familientradition der ganz eigenen Art?
Wie anders sind da doch die emotionalen Bekundungen, die in einer Videoarbeit des Künstlerinnenkollektivs Neozoon im Treppenhaus der Villa Merkel über die Wand flimmern: Da wird umarmt, gestreichelt, geküsst, abgeschleckt, dass es eine wahre Lust ist. Nur sind die Partner nicht Mann und Frau (oder Mutter und Sohn), sondern Mensch und Tier. Das ist neben der Kern-, Regenbogen oder Patchworkfamilie eine vierte Form: die Wunschfamilie. Sind Wahlverwandtschaften doch die haltbareren, innigeren Verbindungen als die durch Zufall und Vererbung geschaffenen?
Was macht überhaupt den Zusammenhang einer Familie aus? Sind es die Gene, die im langen Zusammenleben geschaffenen Rituale oder aber kleine Zeichen der Identität wie die Sprache? Die Konzeptkünstlerin Nina Katchadourian ist die Tochter eines in der Türkei geborenen Armeniers und einer in Finnland geborenen, allerdings schwedischsprachigen Mutter. Der sprachliche Background beider Elternteile ist deutlich an ihrem Englisch zu hören. Also schickte die Tochter beide in ein Sprachinstitut, damit sie dort lupenreines Englisch lernten, und filmte sie bei ihren Bemühungen. Vernichtet sie damit aber nicht zugleich deren Identitäten? Ist, was auf den ersten Blick als gut gemeinte pädagogische Tat einer Tochter gesehen werden kann, nicht eigentlich Elternmord?
Die Familienbilder der Künstler sind vielfältig und sehr zwiespältig. Ein uneingeschränktes Wohlgefühl stellt sich beim Ausstellungsbesucher auf den ersten Blick bei Familienfotos alter Tradition ein:
Auf den Bildern von Verena Jaeckel sitzen die Angehörigen auf altmodischen Sesseln, halten Kleinkinder im Arm oder auf dem Schoß. Derlei ist derart von alten und altmodisch wirkenden Familienfotos her vertraut, dass man erst auf den zweiten Blick wahrnimmt, dass die Eltern jeweils ein- und demselben Geschlecht angehören. Haben die Beteiligten gerade deswegen das alte Familienfoto als Muster gewählt? Um trotz der ungewöhnlichen Elternschaft als vollgültige Familie angenommen zu werden?
Einem traditionellen Begriff der Kernfamilie scheinen die meisten Künstler zu misstrauen. Er scheint fragwürdig geworden, schimmert aber bei allen vorgeführten neuen Modellen stets im Hintergrund mit. Eine Ausnahme: Byung Chul Kim. Auf Zeichnungen mit dünnsten Graphitlinien skizziert er eine Hand, ein Gesicht und bekennt sich als Sohn seines Erzeugers, der in den Gliedmaßen des Vaters sich selbst sieht, der auf einer anderen Zeichnungscollage seiner Großmutter ein Denkmal setzt – sich aber auf einem großen zeichnerischen Werk eine ganz eigene Familie geschaffen hat.
Sie besteht aus den Namen von Künstlerkollegen: Robert Longo, Niki de Saint Phalle, Alexander Calder. Diese Fixpunkte verband er mit Lineal und Zeichenstift zu einem Liniengeflecht, das mit den dichten Schraffuren einen Flügel bildet: den Flügel von Albrecht Dürers Nemesis, und all den Künstlerkollegen, die er so zu einer Familie zusammengebunden hat, ist eines gemeinsam: Sie alle haben sich in ihrem Werk auf Dürer bezogen, der somit eine Art Übervater geworden ist.
Das Thema Familie verführt allerdings auch leicht dazu, dass die Künstler sich in allzu familienspezifischen Anspielungen ergehen. Man muss schon die genauen Hintergründe von Fadma Kaddouris „Family narrative auto-fiction“ kennen (bzw. im Katalog nachlesen), um zu verstehen, was es mit den Tonkassetten und den aus Tonbändern gebildeten Linien an den Wänden auf sich hat, und die sehr divergenten Elemente, aus denen sich Simon Fujiwaras Anspielung auf ein von ihm entwickeltes Museum of Incest bestehen, wollen sich kaum zu einem nachvollziehbaren Bild dieses „Familienthemas“ fügen. Der Rest der Arbeiten aber regt an: zum Zweifeln, zum Hoffen, auf jeden Fall zum Nachdenken.
„Dicker als Wasser. Konzepte des Familiären in der zeitgenössischen Kunst“. Villa Merkel, Esslingen bis 26.2.2017