Dass Landschaftsbild und abstrakte Kunst kein Widerspruch sein muss, hat Wassily Kandinsky gezeigt. Von diesem Wegbereiter und Theoretiker der abstrakten Kunst gibt es Bilder von den Alpen, auf denen die Gipfel immer mehr geometrisch reduziert wurden, bis nur noch Dreiecke und Spitzen übrig blieben. Dass auch der Biberacher Maler Jakob Bräckle – allerdings Jahrzehnte nach Kandinsky – zu einer abstrakten Malerei fand, war weniger selbstverständlich, begann er doch als getreuer Chronist seiner ländlichen Umgebung. In einer umfassenden und klar gegliederten Retrospektive im Biberacher Museum kann man nachvollziehen, warum dieser Weg eingeschlagen werden konnte.
Sommer, 1945
Es ist alles zu sehen, was zu einem Getreidefeld gehört: Goldgelbe Ähren wiegen sich im Sommerwind, dazwischen wachsen ein paar Grashalme, und am Himmel ziehen zwei weiße Vögel ihre Bahnen. Jakob Bräckle, durch eine Krankheit gehbehindert, beschränkte sich ganz auf seinen begrenzten Bewegungsradius, und das hieß das heimatliche Dorf Winterreute, später Biberach. Er ist der Chronist dieser unspektakulären Welt. Wir sehen Handwerker wie etwa Holzarbeiter, wir lernen in Vergessenheit geratene Tätigkeiten wie das Schneeschaufeln kennen, das heute von Schneeräumfahrzeugen übernommen wird, früher von Männern in Gruppenarbeit geleistet wurde, wir beobachten Männer, die am Dorfweiher im Winter Eis zur Kühlung aus der harten gefrorenen Seeoberfläche schlagen.
Aber Bräckle war bei alledem kein Genremaler. So finden sich zwar Menschen auf seinen Bildern, sehr viel häufiger aber sind die Bilder menschenleer, und damit fing er das Wesen dieser Szenerien ein. Die Hinterhofbilder wirken gerade durch das Fehlen von Menschen desolat, immer wieder lenkt Bräckle auf seinen Bildern den Blick des Betrachters in die Ferne. Ein Hauch von Tristesse und Einsamkeit liegt über diesen Bildwelten, vor allem den winterlichen, die Bräckle bevorzugte, wenn die Bäume ohne Laub sind, die Zweige nackt in den grauen Himmel ragen, oft auch abgeknickt sind. Vor solchen Bildern fallen einem nicht muntere Winterlieder vom Schnee ein, sondern die melancholischen bis verzweifelten von Schuberts Winterreise oder auch Samuel Becketts Baum in Warten auf Godot. Weil es keine Genreszenen sind nennt Bräckle denn oft in seinen Bildtiteln weniger die Tätigkeiten, sondern Tages- oder Jahreszeiten, verweist den Blick also auf Atmosphäre, und es verwundert nicht, wenn er immer wieder die kalte Jahreszeit wählt oder die Mondnacht, wenn das Licht und die weiße Schneedecke alles nivellieren, Details unwichtig werden lassen.
Und so verwundert es auch nicht, dass er sich Ende der 20er Jahre von den metaphysischen Malern wie de Chirico oder Carrà inspirieren ließ und Bilder schuf, die denen des magischen Realismus der 20er Jahre ähneln. Doch war Bräckle, auch wenn er sich von anderen Künstlern oder Stilen anregen ließ, nie Epigone. So übernahm er zwar von Vincent van Gogh dessen pastosen Farbauftrag und das besondere Gelb, doch van-Gogh-Nachahmungen wurden nicht daraus, Bräckle nutzte die Stilelemente zur Schaffung ganz eigener Bildwelten.
Das gilt auch für die Phase, als er seine Figuren stark abstrahierte und deutliche Anklänge an entsprechende Bilder von Kasimir Malewitsch malte, der ebenfalls zu seinem Biberacher Umfeld gehörte, denn der Architekt Hugo Häring, der nach dem 2. Weltkrieg von Berlin nach Biberach zog, brachte siebzig Werke dieses russischen Meisters mit.
Doch Bräckle blieb nicht lange in der Nachfolge Malewitschs. Er nutzte die Abstraktion zur Entwicklung eines ganz eigenen Spätstils, in dem jedes Detail überflüssig wurde. Von Häusern blieben oft nur die Grundformen übrig, Fenster sind kaum angedeutet, die Welt ist hier auf ein Minimum reduziert, farblich wie formal – und doch stets erkennbar.
Winterreute, 1963
Wie sehr er an dieser Abstraktion gearbeitet hat, zeigt ein Vergleich mit früheren Bildern desselben Motivs. Damals waren noch rote Dächer und Türen berücksichtigt, jetzt werden sie zu rein geometrischen Flächen reduziert.
Desgleichen die Felder, die nunmehr zu farbigen Streifen oder klaren Flächen mutieren. Das sind Landschaftsbilder – aber gemalt von einem Meister der konstruktivistischen Abstraktion.
März, 1979
Bräckle blieb seinen Themen treu – und führte sie über in die Malerei der Moderne. Dabei stieß er mitten in das Herz der Dinge vor, gestaltete das Wesen der Motive. Das sind abstrakte Flächen, aber zugleich auch noch Häuser, und man fragt sich vor solchen Arbeiten unversehens, was denn ein Haus zum Haus macht?
Das scheint ein extremer Gegensatz zu den früher entstandenen Bildern zu sein, auf denen die Welt auf dem Lande porträtiert wurde, und doch sind diese späten, dem Wesen der Dinge nachspürenden Bilder in den früheren Schaffensphasen bereits angelegt. Denn wenn er Kornähren auf einem Feld malte, dann rückte er so dicht an das Motiv heran, dass man geradezu eins wird mit dem Gegenstand. Schon hier gestaltete Bräckle nicht ein Kornfeld, sondern den Inbegriff sommerlichen Reifens und ländlicher Fruchtbarkeit. Wenn er Schneelandschaften malte, dann fing er die Kälte und das Abweisende der Winterwelt ein. Und Bräckle hat auch den Grund dafür erkannt. Gerade weil die Welt um ihn herum so unspektakulär, so „einfach“ sei, erlaube sie ihm, „das Geheimnisvolle“, „das Unsichtbare“, das Ewige“ in ihr zu entdecken. Die Biberacher Ausstellung zeigt, dass Dorfleben und Abstraktion keine einander ausschließenden Gegensätze sein müssen, und dass auch in scheinbar realistischen ländlichen Szenen bereits ein großes Maß an Abstraktion stecken kann. So erkennt man, nachdem man die letzte Phase dieses Malers erkundet hat, wie viel Modernität schon in den frühen Arbeiten angelegt war.
„Jakob Bräckle: ‚Meine einfache Landschaft’“, Museum Biberach bis 22.4.2019. Danach vom 5.5. bis 7.7. 2019 in der Städtischen Galerie Böblingen. Katalog (eine über die Ausstellung weit hinausgehende Monographie) 360 Seiten, 49,80 Euro