Der Kinderreim – wie auch so manche Kinderzeichnung – verrät das Wesen der abstrakten Gestaltung: Punkt Punkt, Komma Strich – mehr braucht es nicht für ein Gesicht. Der Bildhauer und Zeichner Hubert Rieber verzichtet auf jede naturalistische Ähnlichkeit mit dem menschlichen Kopf, und doch prägt diese Form sein Schaffen, wie jetzt eine Ausstellung in der Städtischen Galerie Tuttlingen zeigt.
Hubert Rieber, Großer Metallkopf. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Es ist eigentlich alles da, was für einen Kopf nötig ist, und doch hat Hubert Rieber auf fast alles verzichtet, was man erwarten mag. Da wäre zunächst das Profil – die Linie von der Stirn über die Einbuchtung der Augenpartie, die längliche Vorwölbung der Nase, der Mund, das Kinn. Vom Profil ist bei ihm manchmal lediglich eine kleine Einkerbung im unteren Bereich geblieben, eine Art Hinweis auf eine Mundöffnung; Nase, leicht gerundetes Kinn – Fehlanzeige, und doch hat man bei den großen Bodenplastiken unverkennbar einen menschlichen Kopf vor sich. Rieber macht mit seinen Arbeiten deutlich, dass es nur einiger Grundelemente bedarf, um einen realitätsnahen Eindruck zu erzielen, einen Eindruck, den der Betrachter selbst herstellt, denn die Gebilde, die der Bildhauer aus rostigem Stahl fertigt, kommen ohne Details aus.
Somit sind Riebers Arbeiten, wiewohl dem Urbild des Kopfes so nahe, von der Natur doch weit entfernt. Seine Arbeiten sind Musterbeispiele für das Verhältnis von Natur, mit ihrer ganzen Formenvielfalt und Differenziertheit im Detail, und abstrakter Formreduktion. Damit ist die Ausstellung in der Städtischen Galerie in Tuttlingen eine Art Lehrstunde in Sachen moderner Kunst.
Wesentlich bei Riebers Plastiken ist aber nicht nur die Formgestaltung. Wie stets bei einem Bildhauer ist das Material gleichermaßen Sinnträger. Bei Rieber sind es Materialien, die optisch faszinieren: mittelbrauner leicht körniger Rost, mit dem die Stahlskulptur überzogen ist, bzw. in Grautönen leicht changierendes Blei, wobei Rieber die Patina dieses Materials belassen hat. So scheinen seine Skulpturen zu atmen und sind doch zugleich symbolhaft dem Tod nahe: Rost als Inbegriff des vergehenden Stahls, Blei als giftiger Werkstoff, nicht zu Unrecht aus der Handwerkspraxis verbannt.
Riebers Plastiken aber verleihen diesen beiden Materialien eine Art eigenes Leben. Das liegt nicht zuletzt an seiner Gratwanderung zwischen radikaler Abstraktion von jedem Detail und unverkennbarer Nähe zur Natur, dem menschlichen Kopf.
Hubert Rieber, Großer Metallkopf. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Dabei sind seine Plastiken – bei aller Assoziationsnähe zur Realität – genau genommen nichts als Exerzitien in unterschiedlichen Graden der Abstraktion. So wirken seine Stahlköpfe aus allen Perspektiven – und es lohnt sich, um sie herumzugehen – wie Variationen des Themas Dreieck. Selbst die Mund- bzw. gelegentlich vorhandene Naseneinbuchtung ist nichts anderes als ein aus dem Stahl herausgeschnittenes Dreieck. Der Betrachter jedoch ergänzt diese Reduktion auf geometrische Grundformen unversehens zu naturähnlichen Phänomenen wie Profil oder Hinterkopf.
Durch ihre Reduktion auf diese geometrischen Grundelemente wirken seine Köpfe wie Wesen aus einem Schattenreich. Dazu trägt auch das Material bei. Vor allem seine an der Wand hängenden kleinen Kopfplastiken aus Blei scheinen aus einer fernen Kultur zu uns herübergekommen zu sein. Sie strahlen Naturnähe und Fremdheit zugleich aus und oszillieren damit zwischen den Bereichen Leben und Kunst.
Hubert Rieber, Wandkopf. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Zugleich regen die Arbeiten den Betrachter an, über das Verhältnis von innen und außen, von Inhalt und Form nachzudenken. Vor allem die Bleiköpfe bestehen aus metallener Hülle und hölzernem Kern, wie einige Arbeiten deutlich machen, bei denen der hölzerne Kern in einem kleinen Spalt hervortritt.
So ist man in der Ausstellung konfrontiert mit aus dem eigenen Leben bekannten Elementen – den Köpfen – und taucht in der Auseinandersetzung mit ihnen ein in Grundfragen künstlerischer Gestaltung der Moderne, in Fragen nach Naturähnlichkeit und Abstraktion, nach materieller Formung und Eigencharakteristik der Materialien. Aus der Naturform Kopf wird reine, fast konstruktivistisch genau geplante abstrakte Kunst, und doch ist das Naturvorbild stets präsent.
„Hubert Rieber‚ ‚Metall – Holz‘“. Städtische Galerie Tuttlingen bis 20.10.2024