Tempo prägte den Beginn der Moderne in der italienischen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Futurismus wollte das neue Lebensgefühl der Welt des Automobils und des Flugzeugs verherrlichen. Was sich seitdem an Modernität in Italien künstlerisch getan hat, kann man in einer Ausstellung im Museum Ritter nachvollziehen – nicht kunsthistorisch lückenlos und repräsentativ; der Ausstellungstitel ist Programm: „Kunst aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter“, die Ausstellung ist aber deswegen keineswegs einseitig.
Wie hat Piero Dorazio das nur gemacht, fragt man sich unwillkürlich. Der Blick wird wie magisch ins Zentrum seines Bildes gezogen wie durch einen Sog, um sich weit hinten im Unendlichen zu verlieren. Dabei ist das Ganze schlicht eine glatte Fläche: Acrylfarbe auf Leinwand. Aber durch raffinierte Rasterüberlagerungen hat Dorazio den Eindruck eines unendlichen Raums geschaffen.
Dieses Spiel mit Tiefe, die doch nicht vorhanden ist, findet sich mehrfach in dieser Ausstellung. An der Wand neben Dorazios Bild hängt ein Gemälde, bei dem Mario Nigro schon im Titel auf das Phänomen anspielt: Dallo spazio totale, im absoluten Raum. Hier scheinen lauter Farbgitter nur notdürftig den Sog ins Unendliche nach hinten zu verhindern.
Räumlichkeit kann es aber auch in die andere Richtung geben. Dadamaino hat aus Aluminiumplättchen auf Holz den Eindruck einer sich nach vorn wölbenden Gebildes geschaffen. Auch dieses Bild ist zweidimensional, die Wölbung nur scheinbar. Die Künstler des 20. Jahrhunderts, und diese Ausstellung zeigt Arbeiten der letzten hundert Jahre, verzichten auf die alte Tradition der Zentralperspektive und kreieren ihr eigenes Raumgefühl. Und sie müssen nicht einmal zum Mittel der optischen Täuschung greifen; selbst bei eindeutig zweidimensionalen flächigen Bildern können sie die Illusion von Raum evozieren. Auf schwarzem Grund hat Atanasio Soldati farbige Quadrate, Rauten und Halbkreise verteilt. Spielerisch scheinen sie im Raum zu schweben, und trotz der geometrischen Formen hat man den Eindruck, das Bild eines kleinen Dorfes vor sich zu haben; zugegeben eines Dorfes aus einem Kindermärchen, als wäre Soldati Bühnenbildner, der das Ambiente für ein Theaterstück entworfen hat.
Der Ausstellungstitel „Tutto bene“ hätte dabei nicht besser gewählt werden können. Alles strahlt eine optimistische Leichtigkeit aus, und in der Tat fehlt in der italienischen Kunstgeschichte der Moderne so etwas wie der zumindest farblich schwergewichtige Expressionismus der deutschen Kunst. Es ist vielleicht kein Zufall, dass am Beginn der italienischen Moderne eine Kunstrichtung stand, die sich dem Tempo widmete. So ist in dieser Ausstellung nur sehr wenig richtig statisch. Motoren bringen Bilder in Schwingung. Bei Grazia Varisco beginnt die Bildwelt sich zu verformen und eröffnet magisch anmutende tiefe Räume. Bei Gabriele Devecchi scheint die Bildoberfläche lebendig zu werden. Winzige Nadeln richten sich plötzlich ruckhaft auf und legen sich wieder hin.
Aber es bedarf nicht unbedingt bewegter Bilder, um den Eindruck von Motorik zu erwecken. Zu diesem Eindruck kann auch der Betrachter von Bildern beitragen, indem er sich vor den Arbeiten hin- und herbewegt. Dabei beginnen gebürstete Metallflächen zu changieren, sich sogar abrupt zu verändern.
Nichts, so hat man den Eindruck, ist hier, wie man es gewohnt ist, selbst so klar definierte geometrische Formen wie der Würfel oder das Quadrat nicht. Edoardo Landi hat mit Gummibändern vor schwarzem Grund ein Gebilde geschaffen, das man durch Einnahme der richtigen Perspektive zu einem korrekten Würfel zu bringen versucht. Man wird scheitern und möchte am liebsten die Finger zur Hilfe nehmen, was natürlich nicht erlaubt ist. Ebenfalls mit Gummibändern arbeitete Gianni Colombo: Spazio elastico – superficie nannte er sein Bild bezeichnenderweise.
Gerade beim Phänomen Quadrat kommt es dabei zu nicht geringen Irritationen, ja sogar Widersprüchen. Quadrati ruotati nennt Manfredo Massironi ein Bild aus Kartonstreifen – schon sprachlich eine skurrile Angelegenheit: nicht etwa „rotierendes“ Quadrat, sondern rotiertes Quadrat, aber genau das ist es auch.
Und Bruno Munari gar nannte ein Bild Quadrati amorfi, amorphe, also formlose, Quadrate, ausgerechnet bei einem Gebilde, dessen Form so klar definiert ist wie in diesem Fall. Aber genau das zeigt sein Gemälde. Bei Marcello Morandini scheint ein weißes Quadrat ruckweise nach hinten zu wandern, wo es dann irgendwann stehenbleibt. Und bei Enzo Cacciola scheinen Quadrate in schwarz und grau beliebig durch den Raum zu schweben – mit Öl auf glatte Leinwand gemalt, und der Betrachter ist wie so oft in dieser Ausstellung zu Recht verblüfft und zugleich amüsiert. Tutto bene – alles gut!
„Tutto bene. Italienische Kunst aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter“, Museum Ritter, Waldenbuch, bis 16.4.2023