Schon in der römischen Antike versuchten Maler, an Wänden die Realität naturgetreu zu kopieren. In der Stilllebenkunst der frühen Neuzeit feierten sie Triumphe, wenn sie Früchte so täuschend auf der Leinwand porträtierten, dass man nach ihnen greifen wollte. Wenn Künstler unserer Zeit mit dem Pinsel die Realität nachzuahmen scheinen, steckt meist mehr dahinter als bloße Augentäuscherei, wie etwa bei Werner Fohrer, von dem die Galerie „Fähre“ in Bad Saulgau eine Auswahl präsentiert unter dem Titel „Reflexion und Wirklichkeit“.
Der Gipfel schweigt (Jungfrau), 2011 Foto: U. Schäfer-Zerbst
Es ist alles da, was man sich für eine Hochgebirgslandschaft so vorstellt: steil und spitz in die Höhe ragende Felsformationen in allen nur erdenklichen Schattierungen der Farbe Mausgrau, wie Gebirgsfelsen nun einmal aussehen; hie und da ein weißer Fleck von Schnee oder gar Eisrelikten; das Ganze unter einem strahlend wolkenlosen hellen blauen Himmel, frostigblau natürlich, Schnee und Eis überdauern hier ja alle Jahreszeiten. Werner Fohrer beherrscht die Technik der realistischen Malerei perfekt; Grundlage für seine Gemälde sind nicht selten Fotos.
So meint man auch bei seinen Wasserflächen zu hören, wie die Wellen auf der Oberfläche leise vor sich hin rauschen. Und vor seinen Bildern des Großstadtlebens glaubt man geradezu, das Motorengeräusch der vorbeifahrenden Autos auf den Straßen zu vernehmen. Das rasante Tempo dieses Ambientes fängt Fohrer mit Pinselstrichen ein, die den Eindruck scharfer Konturen gar nicht zulassen, alles scheint vor den Augen zu verwischen – wie rasant vorüberziehende Fahrzeuge nun einmal wirken.
Dieses „Wirken“ macht das Wesen dieser Bilder aus: Fohrer stützt sich zwar auf das, was er mit seinen Augen sieht, doch mit dem, was Jahrhunderte zuvor die Maler in ihren Stillleben anstrebten und als vorzügliches Ziel ihrer Arbeit ansahen, hat seine Malerei nur vordergründig zu tun. Die weißen Flecken auf den Gebirgsfelsen sind eindeutig künstlich auf die Leinwand gezaubert; man glaubt sogar noch Spuren der Pinselborsten zu sehen – und doch stellt sich sogleich wieder der realistische Eindruck einer perfekten Gebirgslandschaft ein.
Waterface II/09, 2009 Foto: U. Schäfer-Zerbst
Und auch seine „Porträts“ von Wasserflächen wirken nur wie das perfekte Abbild des Wellenspiels in heller Sommersonne; es ist in Wirklichkeit nichts als das Produkt von Pinsel und Farbe – und auch das macht Fohrer neben dem realistischen Abbildeindruck mit seiner Malerei deutlich.
„Reflexion und Wirklichkeit“ ist die Ausstellung überschrieben – bessere Stichwörter hätte man für Fohrers Arbeiten kaum finden können, außer dass man vielleicht den Begriff Wirklichkeit an die erste Stelle hätte setzen sollen, denn sie ist der Ausgangspunkt seines Tuns, sein Bild von ihr. Was er dann auf der Leinwand realisiert, ist das, was im Kopf des Betrachters – in diesem Fall des Künstlers – mit dieser Wirklichkeit geschieht, denn wir haben von der Wirklichkeit stets nur eine Vorstellung, ein Bild, nie das Original – und so verweist Fohrer mit seiner Malerei auf genau diesen hochphilosophischen Umstand: Alles auf diesen Bildern deutet auf Wirklichkeit – und doch ist alles reines Kunstprodukt.
Streetlife IV/21, 2021 Foto: U. Schäfer-Zerbst
Das gilt vor allem für seine Szenen aus der Großstadt. Auf diesen „Nachtbildern“ verschwimmen die Lichter der Fahrzeuge und die der Gebäude – Fohrer löst den nächtlichen optischen Eindruck ganz in das Phänomen der Geschwindigkeit auf und bringt so ein malerisches Pendant dessen auf die Leinwand, was „das“ Bild der Großstadt bei Nacht bei vielen auslöst – einen Rausch der Farben und zerfließenden Formen. Bei seinen „Waterface“-Bildern will man sich am liebsten in dem Spiel von Licht und Wasser verlieren, das es so natürlich nur in unseren Augen und unserer Vorstellung, also in unserer Reflexion geben kann. Und dass Großstadtbilder nicht realistische Porträts bestimmter real existierender Szenen sind, zeigen seine in der Ausstellung sinnvollerweise nebeneinander gehängten kleineren Bilder so unterschiedlicher Städte wie „Katowice“, New York („Central Park“) oder „Yekaterinburg“: Sie sind letztlich austauschbar, Großstadt scheint überall auf der Welt ein eigenes Phänomen zu sein: eine Einheit aus Metall, Tempo und Rastlosigkeit.
Am faszinierendsten gelang Fohrer dies bei seinen großformatigen Großstadtszenen der letzten Jahre. „Streetlife“ nennt er sie bezeichnenderweise durchweg, ohne genaue Ortsbezeichnung, denn einer solchen bedürfen solche Szenen nicht. Fohrers Großstadtbilder sind geprägt von Undefinierbarkeit. Man sieht zwar auf den ersten Blick alle Ingredienzien solcher „Landschaften“: Menschen in den Straßenschluchten mit Blick auf das Handy, Kinderwagen auf den Gehwegen, Autos, die zwischen ihnen die Straßen temporeich unsicher machen. Doch das alles erweist sich beim zweiten genauen Hinsehen als Chimäre. Alles ist verwischt, alles scheint durchlässig: Der Kinderwagen ist erkennbar, und doch zugleich transparent, lässt Beine von dahinter befindlichen Passanten durchscheinen. Nichts in dieser Welt ist genau definiert, alles ist im Fluss.
So erweisen sich Fohrers Bilder als perfektes Zwischenglied zwischen der Realität, die sie scheinbar detailgenau wiedergeben, und dem subjektiven Eindruck, den diese Realität auf uns in ihr Lebenden hinterlässt – eben Wirklichkeit und Reflexion. Und das gelingt, so hat man den Eindruck, eben nur in der Kunst, in der Malerei, und so sind Fohrers Bilder stets zweierlei: Wiedergabe des Geschehenen und Akt des Sehens – ein künstlerisches Pendant zu dem, was uns als Wirklichkeit erscheint.
Werner Fohrer – Reflexion und Wirklichkeit“, Galerie „Fähre“, Saulgau, bis 26.5.2024