Schattenseiten des Menschen: Francisco Goyas Radierungen

Eigentlich sind Werk und Biographie dieses Mannes kaum zu begreifen. Da malte Francisco Goya Mitglieder des spanischen Hofes mit schonungsloser Offenheit, porträtierte geradezu fratzenhafte Gesichter und wird doch akzeptiert, sogar zum Hofmaler ernannt. Es dürfte einer der seltenen Fälle sein, wo Ehrlichkeit, und zwar gnadenlose Ehrlichkeit, von der feinen Gesellschaft offenbar ohne große Probleme hingenommen, sogar honoriert wird. Und dann zieht sich dieser Hofmaler Goya plötzlich weitgehend von repräsentativen Porträts der Adelsgesellschaft zurück und widmet sich in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts intensiv der Graphik, der Radierung. Die Galerie Stihl in Waiblingen zeigt seine vier großen Zyklen. Der erste trägt den harmlosen Titel: „Caprichos“, das heißt „ Launen“ – ist aber ein wahres Pandämonium menschlicher und gesellschaftlicher Mängel. 

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© Morat-Institut Freiburg i. Brsg. Foto: Bernhard Strauss

Ursprünglich wollte Goya diesen Zyklus mit einer metaphorischen Radierung über die Ausgeburten schwarzer Phantasie eröffnen, doch dann entschied er sich für sein Konterfei – elegant gekleidet, mit kritischem Blick und leicht spöttisch heruntergezogenen Mundwinkeln, und genau in dieser Geisteshaltung schuf er die achtzig Radierungen seines ersten Graphikzyklus. Der Titel, den er diesem gewaltigen Konvolut an faszinierenden Radierungen gab, ist freilich eine starke Untertreibung, denn die nachfolgenden Blätter zeigen die Torheiten der Menschen auf eine Weise, wie sie krasser kaum hätte ausfallen können. Da wird gleich auf dem ersten Blatt eine junge Frau an einen alten Mann verkuppelt, sie trägt eine Maske, sodass er gewissermaßen die Katze im Sack kauft. Goya_Caprichos_06 (653x900)

Francisco de Goya. Niemand kennt sich. Los Caprichos, Blatt 6 © Morat-Institut Freiburg i. Brsg. Foto: Bernhard Strauss

Die Welt, so Goyas Fazit bereits bei diesen ersten Blättern, ist ein reines Maskenspiel, keiner durchschaut den anderen. Goya, der schon in seinen Gemälden mit hochrangigen Persönlichkeiten des Adels nicht davor zurückgescheut hatte, auch hässliche Gesichtszüge mit schonungsloser Offenheit auf die Leinwand zu bringen, tritt hier als ein Künstler auf, der der Menschheit – nicht nur der spanischen Gesellschaft – den Spiegel vorhält.

Da geht es um arme Mädchen, die, um dem Hungertod zu entgehen, alte, hässliche Greise heiraten müssen. Da geht es um die Frauen, vor allem die käuflichen, die die Männer rupfen wie ein Huhn, pardon einen Hahn, und ein gerupfter Hähnrich läuft denn auch vor ihnen her. Der Klerus rupft weiter, macht damit also gemeine Sache mit den Prostituierten. Die Welt ist nichts als ein Kaleidoskop von Masken.

Vor allem der Adel kommt schlecht weg, er taucht auf gleich mehreren Blättern in Gestalt eines Esels auf, aber auch der Klerus, vertreten durch die Mönche oder die Inquisition, scheint jedes menschliche Empfinden verloren zu haben. Geldgierig und lüstern sind beispielsweise die Mönche, die doch Armut und Keuschheit auf ihre Fahnen geschrieben haben. Aber auch die auf den ersten Blick unschuldigen Opfer der Gesellschaft bleiben von Hohn nicht verschont. So eine junge Frau, die auf offener Straße entführt wird. Goyas lapidarer Kommentar: „Eine Frau, die nicht auf sich aufpassen kann, gehört dem Erstbesten, der sie packt“. Frauen, die unehelich schwanger werden, gehören in dieselbe Gruppe der durch eigene Schuld Verdammten wie etwa eine junge Frau im Verlies. „Weil sie empfindsam war“, so der Titel, will heißen, sich dem Gefühl des Augenblicks hingegeben hat. Jedem Blatt gab Goya einen Titel bei, und diese Titel muss man mit dem Bild zusammen lesen. Zu sehen ist ein junges schwangeres Mädchen, ledig, im Gefängnis, verlassen. Goya hätte die moralische Schuld dem anlasten können, der sie geschwängert hatte, doch der Titel gibt auch dem jungen Opfer in seiner Arglosigkeit und Gedankenlosigkeit Schuld. 

Goya zeigt gerade mit diesem Blatt, welch ein grandioser Graphiker er war, vor allem durch den Einsatz der Aquatintatechnik. Bei ihr können mithilfe sorgfältig eingesetzter Säure nachtschwarze Flächen erzielt werden, die in der Radierung eigentlich unmöglich sind, die aber der düsteren Welt, die Goya auf seinen Radierungen porträtiert, ideal entsprechen. 01_Goya_Capricho_43 Probedruck (600x900)

Francisco de Goya. Der Traum (von) der Vernunft gebiert Ungeheuer. Los Caprichos, Blatt 43. © Morat-Institut Freiburg i. Brsg. Foto: Bernhard Strauss

Statt „Caprichos“ hätte Goya seinem Zyklus auch den Titel geben können, den er unter Blatt 43 gesetzt hatte: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Damit weist er sich als hellsichtiger Zeitgenosse einer Ära aus, in der die Aufklärung zumindest in Frankreich zum Sturz der Adelsherrschaft geführt hatte.

Die Ausstellung hat für diese meist kleinformatigen Blätter einen eigenen Raum geschaffen, ein Kabinett innerhalb der Kunstgalerie, in dem man sich ganz auf die Inhalte, aber auch auf die grandiose Radiertechnik Goyas konzentrieren kann.

Goya klagte allgemeine Fehler und Schwächen an, attackierte aber immer wieder besonders harsch die gehobene Gesellschaft. Trotzdem wurden seine Caprichos gleich bei Entstehung gedruckt – und auch von Adeligen gekauft. Kommentare wurden geschrieben. So einfach ging es mit seinem zweiten Zyklus nicht, den „Desastres de la guerra“ – einer Anklage gegen die Kriegsgräuel während des Unabhängigkeitskrieges gegen Ende der napoleonischen Zeit. Dabei hätten diese Blätter doch dem Patriotismus der Spanier entgegenkommen müssen, die sich gegen die Franzosen auf dem Schlachtfeld behaupten mussten. Sie wurden aber erst lange nach Goyas Tod veröffentlicht, vielleicht, weil sie das Aufnahmevermögen des damaligen Publikums überstiegen. Folter, Sadismus, Leiden wurden wohl noch nie so krass dargestellt. Man fühlt sich an die Grauenwelt des Hieronymus Bosch erinnert, nur dass dessen Gemälde eine Phantasiewelt darstellen, Goyas Krieg aber Realität war. Da verherrlichen Soldaten ihre Gräueltaten an Unschuldigen, indem sie die von ihnen verstümmelten Körper auf einem Baum drapieren, als handelte es sich um eine Kunstinstallation unserer Tage.

Nur einmal, so scheint es, drang etwas Optimismus in die zweite Lebenshälfte des durch Taubheit und Tod seiner Frau gebeutelten Künstlers. Goya schuf einen Zyklus über den Stierkampf, und da war er, ähnlich wie nach ihm Pablo Picasso, echter Spanier: Verherrlichung des Toreros, nicht Anklage gegen das Leiden der Kreatur.

Doch das war eine kurze Zeit. Am Ende noch einmal der düstere Goya, und auch hier werden die Titel ebenso wichtig wie die Bilder. „Disparates“ heißt der Zyklus, „Torheiten“, doch was hier schlicht als Torheit bezeichnet wird, ist menschliche Grausamkeit, Herzlosigkeit im Extrem. Blätter, die noch phantastischer anmuten als die vorangegangenen Radierungen – und auch um vieles rätselhafter. Darf man von den Inhalten dieser Zyklen auf Goyas Welt- und Menschensicht schließen, so könnte sie sarkastischer nicht ausfallen. Und wären sie technisch-ästhetisch nicht so brillant, so könnte man diese über hundert Blätter kaum aushalten, selbst nach zwei Weltkriegen und selbst in unserer alles andere als friedlichen Zeit.

Goya. Groteske und Karneval“. Galerie Stihl Waiblingen 1.5.2016

Zu Goya findet sich ein Film auf Youtube von Horst Simschek und mir

 

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