Ein Tag wie jeder andere: Rachel fährt mit dem Zug zur Arbeit, vorbei an den Wohnsiedlungen entlang den Bahngleisen, und beobachtet dabei tagaus, tagein ein Ehepaar. Die beiden machen auf sie einen sympathischen Eindruck, und in ihrer alltäglichen Langeweile auf dem Weg zur und von der Arbeit denkt sie sich für die beiden Gestalten, die sie sieht, aber nicht hört, Biographien aus: Geschichten eines Ehepaares, sie nennt die beiden Jess und Jason. Das könnte der Anfang eines Romans über eine werdende Schriftstellerin sein, die am Ende aus dem Alltag erfolgreiche Literatur bastelt. Und genau dieser Wechsel von „könnte sein“ und „ist es nicht“ bestimmt den Fortgang dieses Buches, der beginnt wie das Psychogramm einer gescheiterten jungen Frau im Großstadtdschungel von London.
Archiv für den Monat: April 2016
In die Tiefen der Seele. Zum 100. Todestag des amerikanischen Erzählers Henry James
Seine Romane spielen dort, wo man sich unterhält: in Salons, auf Spazierwegen. Henry James ist der Meister der Konversation. In seinen Romanen wird nicht gehandelt, da hält man die Augen offen – und redet über das, was man gesehen hat oder gesehen zu haben meint. So hat der Roman „Die Gesandten“, den James für seinen besten hielt, nur ein Thema. Der Amerikaner Lambert Strether, seit langem verwitwet, grundsolider Bürger der Vereinigten Staaten, steht vor seiner Verehelichung mit einer reichen amerikanischen Witwe, soll zuvor jedoch noch deren Sohn wieder auf den rechten Pfad bringen, was heißen soll: ihn den Fängen der verderbten französischen Gesellschaft (und deren Frauen) entreißen und ins puritanische Amerika zurückbringen.
Der Alltag als Rätsel: Gerhard Walter Feuchters Kafka-Zyklus
Seine Sprache klingt, als handle sie vom Alltäglichsten der Welt, und doch gibt jeder seiner so alltäglich wirkenden Sätze Rätsel auf. Franz Kafka entführt den Leser schon mit wenigen Worten in eine Welt des Alptraums, in dem sich der Träumer ja auch in aberwitzige Situationen versetzt sieht, die jedoch alle paradoxerweise einer in sich schlüssigen Logik zu folgen scheinen. Und wie im Traum gibt es auch bei Kafka keine Auflösung der Rätsel, vor denen sich die Figuren und die Leser gestellt sehen. Gerhard Walter Feuchter hat diese Rätselhaftigkeit in einem großen Zyklus in archaisch wirkende Bilder gefasst: „Kafka !!!“
Jung und schon vollkommen: John Crankos „Klassiker“-Abend am Stuttgarter Ballett
„Cranko Klassiker“ kündigt das Stuttgarter Ballett in seinem neuen Abendprogramm an – als ob diese Compagnie nicht seit Jahrzehnten die großen Cranko-Klassiker als Dauerbrenner im Programm hätte: „Romeo und Julia“, „Eugen Onegin“, „Der Widerspenstigen Zähmung“. Was jetzt als Crankos Klassiker an einem Abend präsentiert wird, sind genau genommen Frühwerke: „Pineapple Poll“ und „The Lady and the Fool“ schuf Cranko Anfang der 50er Jahre in London – da war an eine Karriere in Stuttgart noch gar nicht zu denken, denn es gab in Stuttgart kein eigenständiges Ballett, und da war er gerade einmal Mitte zwanzig! Was nichts über die Qualität dieser beiden Stücke aussagt!
Wiederentdeckung nach 250 Jahren: Niccolò Iommellis „Vologeso“ in Stuttgart
Er zählte zu seinen Lebzeiten zu den begehrtesten Komponisten: der Italiener Niccolò Iommelli. Mit 35 Jahren war er bereits Vizekapellmeister am Vatikan, Papst Benedikt XIV., persönlich setzte sich für ihn ein, doch Iommelli folgte dem Werben des württembergischen Herzogs Carl Eugen, als dessen hoch dotierter „Oberkapellmeister“ er u.a. 21 Opern komponierte, die in Stuttgart, Ludwigsburg und Tübingen uraufgeführt wurden, darunter auch „Il Vologeso“. Zu Iommellis 300. Geburtstag brachte die Oper Stuttgart 2015 dieses Werk unter dem Titel „Berenike, Königin von Armenien“ auf die Bühne, in der Regie von Hausherr Jossi Wieler zusammen mit seinem Dramaturgen Sergio Morabito.
Ana Durlovski, Catriona Smith, Sebastian Kohlhepp, Igor Durlovski, Helene Schneiderman, Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart. Foto: A.T.Schaefer
Zum Raum wird hier die Farbe: rosalies „Lichtwirbel“ im Sindelfinger Schauwerk
Im Düsseldorfer Medienhafen klettern bunte Plastikfiguren die Fassaden empor. In Nürnberg überraschen ein flitzender und ein sitzender Hase auf dem Dach eines Hochhausübergangs, und vor der FILharmonie in Filderstadt bei Stuttgart locken grellbunte Lippenpaare die Blicke auf sich – Skulpturen der Stuttgarter Künstlerin rosalie. Längst aber hat sie den Weg von den bunten Kunststoffobjekten zu einem ungleich faszinierenderen Material gefunden, wie sie es spätestens in ihrem Bühnenbild zum Ring des Nibelungen in Bayreuth 1994 demonstriert hat: rosalie arbeitet mit Licht – und hat als neueste Kreation im Sindelfinger Schauwerk damit eine wahre Zauberwelt geschaffen.
In eigener Sache
Über dreißig Jahre durfte ich für den Hörfunk die kulturellen Ereignisse im Land verfolgen – in erster Linie für den SWR. Das kann ich seit meinem Renteneintrittsalter für diesen Sender nicht mehr tun. So verabschiede ich mich auf diesem Weg von meinen Hörern, von denen ich erfreulicherweise viel positive Rückmeldung erhalten habe.
Vor allem bedanke ich mich bei meinen Kollegen in den verschiedenen Funkhäusern dieses Senders. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Glück, wenn man über Jahrzehnte hinweg in unterschiedlichen Zusammensetzungen fast durchweg mit engagierten, interessierten und vor allem liebenswerten Menschen zusammenarbeiten kann, und ich hoffe, auch weiterhin den Kontakt mit ihnen pflegen zu können.
Meinen – nunmehr ehemaligen – Hörern bleibe ich über diesen Blog erhalten sowie über Filme auf Youtube, und damit bleibt mir auch der intensive Kontakt mit der Kultur erhalten, der ich mich so lange mit ganzem Herzen gewidmet habe, denn ein solcher Kontakt kann nur so intensiv sein, wie er es stets war, wenn er in eine kreative Auseinandersetzung mündet.
Meine Begeisterung hierfür bleibt mir also – und wenn andere an ihr teilhaben sollten, würde es mich freuen. Auf eine neue Zukunft also …
Rainer Zerbst
Miniaturen am Gürtel: Japanische Inrōs im Lindenmuseum Stuttgart
Trotz gelegentlicher Modeströmungen (etwa in den 80er Jahren oder auch wieder in jüngerer Zeit) tun sich hierzulande Männer mit Handtaschen schwer. Sie verstauen ihre Börsen und Taschentücher lieber in den Hosentaschen. Doch was, wenn die Männermode nicht über solche praktischen Accessoires verfügt wie im Japan früherer Jahrhunderte? Wer damals etwas auf sich hielt – und über das nötige Kleingeld verfügte –, investierte in „Inrōs“ – kleine Behälter, die mithilfe eines Knebels (Netsuke) am Gürtel getragen wurden. Und wie so oft in der japanischen Kultur ist alles sehr klein und sehr fein.
Fische und Tintenfisch. Japan, 19. Jh. © Linden-Museum Stuttgart, Foto: Anatol Dreyer
Zweimal Krieg: Otto Dix und Paul Kälberer
In der Kunstgeschichte zählen Jahre oftmals weniger als im realen Leben. Otto Dix, geboren 1891, und Paul Kälberer, geboren 1896 – zwei Künstler, die sich in ihren jungen Jahren intensiv mit der großen Tradition der europäischen Malerei auseinandersetzen: Dix studiert in Dresden die Alten Meister, deren Maltechnik er später nachahmen sollte, experimentiert aber auch schon früh mit aktuellen avantgardistischen Strömungen wie Kubismus und Futurismus; Kälberer lässt sich auf einer Italienreise nachhaltig von der Frührenaissance anregen, an modernen Einflüssen fehlt es an der Stuttgarter Akademie, nachdem dort mit Adolf Hölzel die abstrakten Tendenzen ein Ende gefunden hatten. Entsprechend unterschiedlich verlaufen die künstlerischen Wege dieser beiden Maler, die jedoch ein zweites biographisches Detail verbindet: Beide melden sich gleich zu Beginn des 1. Weltkriegs freiwillig zum Dienst, beide erkennen aber schon sehr bald die katastrophalen Auswirkungen des Schlachtgeschehens, und beide halten künstlerisch fest, was sie dort erleben – jeweils auf ihre Weise.
Altmodisch oder modern? Gustave Courbet und Carl Schuch
Der eine trat nicht selten wie ein Berserker auf und meinte, einen Schuss „Marktschreier“ könne ein Künstler gut brauchen: Gustave Courbet, der große Realist der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Der andere hatte es finanziell nicht nötig, für seine Kunst Reklame zu machen, arbeitete eher im Hintergrund – und ist heute entsprechend wenig bekannt: Carl Schuch, auch er zählt zu den großen Realisten des 19. Jahrhunderts – und ließ sich, knapp dreißig Jahre jünger als Courbet, von dem berühmten französischen Kollegen inspirieren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden so konträren Künstlermentalitäten lassen sich nun im Kunstmuseum Hohenkarpfen und dem Stadtmuseum Hüfingen studieren.