Die Württembergischen Staatstheater bieten derzeit ein seltsames Kontrastprogramm. Das Stuttgarter Ballett setzt wie gewohnt auf die publikumswirksame Mischung aus sehr viel Tradition (natürlich Cranko sowie Kylian, Béjart, erfreulicherweise auch wieder van Manen), sowie einige (viel zu wenige) Kostproben aus dem neueren Repertoire (Goecke, Volpi). Das Schauspiel Stuttgart scheint dagegen auf dem besten Weg, sein jahrzehntelang bewährtes und treues Stammpublikum zu verlieren; nicht selten verlassen Zuschauer scharenweise die Premierenvorstellungen in der Pause, die Kritik reagiert mit Ironie (ein Intendant verliert sein Gefolge – FAZ; eine unheilvolle Allianz aus Ambition, Arroganz, und Ignoranz – Stuttgarter Zeitung). Die Oper Stuttgart aber kann auf ein Jahr der künstlerischen Triumphe blicken. Keine der vier Premieren geriet auch nur in die Nähe des Mittelmaßes, im Gegenteil.
Es begann mit einer „Pflichtaufgabe“: Gefeiert wurde (wenn auch einige Wochen verspätet) der 300. Geburtstag und zugleich 240. Todestag von Niccoló Iommelli, der im 18. Jahrhundert an dem neu ins Leben gerufenen Opernbetrieb in Stuttgart (und später Ludwigsburg) Hofkapellmeister war. Derlei Anlässe geraten nicht selten zur Pflichtübung – nicht so bei Intendant Jossi Wieler, der zusammen mit Sergio Morabito ein fulminantes Opernspektakel in des Wortes bester Bedeutung auf die Bühne brachte: „Berenike, Königin von Armenien“, 1766 in Ludwigsburg unter dem Titel „Il Vologeso“ uraufgeführt. Die Stuttgarter Inszenierung siedelt das Stück nicht wie das Libretto in der Antike an, Bühnenbildnerin Anna Viebrock hat Häuser einer Großstadt nach einem Krieg auf die Bühne gebracht – schließlich spielt die Oper ja auch nach einem Krieg zwischen den Römern und den Parthern. Die Häuser weisen Einschusslöcher auf. In einem Hinterhof finden Jugendliche Relikte einer antiken römischen Villa. Sie sind deutlich traumatisiert von dem soeben durchlebten Krieg, schlüpfen in ein paar Kostümteile – und spielen eben jene Tragödie um Berenike, die ihren Geliebten tot wähnt, sich dem römischen Herrscher Lucio hingeben will, um dann eben doch ihren Geliebten wieder zu finden, und Lucio ist seinerseits ja auch verlobt – mit Lucilla, die eilends aus Rom in das gerade eben eroberte Feindesland gereist ist.
Helene Schneiderman liefert als Lucilla ein virtuoses Kabinettstück eines verwöhnten jungen Frauenzimmers, während Ana Durlovski sich als Berenike grandios der tragisch umflorten Unsicherheit hingibt, ob sie mehr um ihren tot geglaubten Geliebten trauern oder der frisch in ihr aufkeimenden Sympathie für den Römer Lucio trauen soll. Dabei fallen die Figuren immer wieder aus ihrer Rolle; Wieler/Morabito folgen da ganz dem Bühnenbild von Anna Viebrock, die die antiken Säulen, in denen das Geschehen spielt, nur aus Stoff andeutet. So wartet Helene Schneiderman als Lucilla eben nicht nur nervös auf ihren Verlobten, sondern zugleich – als Sängerin – auch darauf, dass das lange Orchestervorspiel zu ihrer Arie endlich aufhören möge.
Am Ende steht bei Iommelli ein Siegeschor, bei Jossi Wieler und Sergio Morabito dagegen spielt nur das Orchester, die Figuren entledigen sich ihrer Kostüme und suchen ihre Alltagskleidung wieder, sichtlich ergriffen von dem soeben gespielten Drama – wie auch das Publikum nach einem bewegenden, zugleich unterhaltsamen Abend, an dem es ein Meisterwerk zu entdecken gab.
Dass die zweite Inszenierung des Jahres einem Meisterwerk galt, war von vornherein sicher: Verdis „Rigoletto“! Doch wie so oft überraschten Wieler und Morabito mit einer ihrer ganz aus der genauen Lektüre von Libretto und Partitur gewonnenen Deutung: Bei ihnen ist Rigoletto nicht nur der Spaßmacher am Hofe von Mantua, der dem Herzog nach dem Munde redet, hier ist er der Strippenzieher, der die eigentliche Macht am Hofe in Händen hält und dem Herzog das Lotterleben inszeniert, dem sich dieser am liebsten hingibt. So findet das Hofleben hinter einem Vorhang statt, der identisch ist mit dem der Oper Stuttgart: Theater im Theater, alles ist Spiel – und wird doch blutiger Ernst, denn Rigoletto merkt nicht, dass er, der glaubt, seine Tochter vor den Gefahren der Welt schützen zu können, indem er sie zu Hause wie in einem Gefängnis verborgen hält, sie genau dadurch ins Verderben stürzt. Am Ende steht er vor seiner sterbenden Tochter – und vor den Trümmern der Welt, die er selbst am Hof geschaffen hat. Bühnenbildner Bert Neumann lässt dazu am Ende den Bühnenprospekt zu Boden sinken: Alles in dieser Welt ist künstlich und dem Untergang geweiht – eine selten schlüssige, psycho-logische Inszenierung.
Diese psychologische Tiefe prägte auch die dritte Inszenierung von Wieler und Morabito, die dem Opernpublikum innerhalb eines Dreivierteljahres drei Meisterleistungen bescherten. Gewiss: Der erste Akt dieser einzigen Beethovenoper mag so manchen Zuschauer verblüffen, vielleicht auch ein wenig langweilen – die Zeit dehnt sich, doch das tut sie eben auch bei Beethoven, der in diesen ersten Akt lange Zeit nicht viel mehr unterzubringen scheint als die biedere Welt von Gefängnisdirektor Rocco, dessen Tochter nicht den ihr ergebenen Gefängnispförtner Jaquino liebt, sondern den neu eingestellten geheimnisvollen Fidelio – der in Wirklichkeit eine Frau ist, die ihren eingekerkerten Gatten Florestan retten will. Bei Wieler und Morabito laufen auf langen Fließbändern ständig Pakete auf die Bühne – vermutlich von den Gefangenen hinter den Gefängnismauern verpackt -, die von den Aufsehern aufgeschlitzt, überprüft und wieder zum weiteren Versand zugeklebt werden. Schlüssiger kann man den öden Alltag in einer solchen Gefängnisatmosphäre kaum mehr darstellen, in der die Gefängniswärter ebenso gefangen sind wie die Gefangenen.
Zudem gibt es in dieser Welt nicht eine Sekunde Privatleben. Vom Bühnenhimmel hängen in Reih und Glied Mikrophone herab, die alles aufzeichnen, was gesprochen (und gesungen) wird, was wiederum hinter den Kulissen von fleißigen Mitarbeitern einer „Staatssicherheit“ mitgeschrieben – und an Stelle der in Opernaufführungen üblichen Übertitel auf einer Schrifttafel eingeblendet wird –, stets ein wenig verzögert, denn Abtippen braucht seine Zeit; bei Wieler und Morabito hat jedes Detail seine logische Erklärung. Die Dialoge werden in der Inszenierung ungekürzt gesprochen. Das Regieteam entdeckt in ihnen dramatische Sprengkraft und zeigt, dass sie keineswegs so bieder harmlos sind, wie viele Regisseure meinen. Trotzdem: Hier hätte gelegentlich ein Rotstift Not getan, doch das ist der einzige Kritikpunkt an einer grandiosen, in sich schlüssigen Deutung eines musikalischen und – wie die Inszenierung deutlich macht – dramaturgischen Meisterwerks.
Deutete diese „Fidelio“-Inszenierung politische Verhältnisse wie den Überwachungsstaat der DDR nur zart an, so entdeckte der russische Regisseur Kirill Serebrennikov in der „Salome“ die aktuelle Situation der Flüchtlingsproblematik unserer Tage – und das, ohne Richard Strauss‘ Oper zu vergewaltigen. Herodes ist bei ihm ein Psychopath – was die Musik, die Strauss ihm in den Mund legt, durchaus nahelegt -, an die Macht gekommen allein durch die Heirat von Königin Herodias. Er leidet unter Verfolgungswahn. Folglich ist sein Palast durchsetzt von Überwachungskameras, deren Bilder alle Räume wiedergeben und von einem Sicherheitsteam auf Monitoren analysiert werden. Matthias Klink liefert eine faszinierende psychopathologische Charakterstudie. Während er seine Stieftochter mit Blicken verschlingt, treibt seine Frau es derweil im Schlafgemach gleich mit zwei schwarzen Lovern. Das ist eine in jeder Faser dekadente Welt, gegen die religiöse Fanatiker aufbegehren, auch das hat Serebrennikov genau analysiert, denn Jochanaan richtet seine Anklagen nicht gegen die Andersgläubigen, sondern gegen die verkommene Königin Herodias.
Jochanaan ist in dieser Inszenierung nicht ein Prophet der Juden, sondern Islamist. Während seiner Prophezeiungen sehen wir auf einer Videoleinwand ein Erschießungskommando am Werk, und wenn er verheißt, dass im künftigen Reich Feigen vom Himmel fallen würden, dann fallen auf der Videoleinwand Bomben aus Flugzeugen. Serebrennikov lässt ihn zweimal auftreten, einmal als Stimme des Propheten, gesungen von Iain Paterson, der im grauen Gesellschaftsanzug auf der Bühne steht. Der eigentliche Jochanaan wird gespielt von Yasin el Harrouk – dieser Jochanaan ist kein Prophet der Juden, sondern Muslim.
Serebrennikovs Inszenierung ist sarkastisch – und politisch realistisch zugleich: Jeder eifernde Prophet hat gefährliches Potential. Wenn er am Ende auf Befehl von Salome enthauptet wird, weil er ihrem erotischen Drängen nicht hatte nachgeben wolle, dann ist dieser Prophet zwar tot, so die Botschaft, seine Stimme aber lebt weiter. So ist eine Inszenierung entstanden, die Richard Strauss gerecht wird und zugleich hochaktuell ist. Das ist meilenweit entfernt von den oft gewollten und daher meist platten Aktualisierungsversuchen am Schauspiel Stuttgart nur wenige Meter neben dem Opernhaus, das in diesem Jahr nur einen Wermutstropfen für sein Publikum bereithielt: die Nachricht, dass Jossi Wieler seinen Vertrag über die Spielzeit 2017/18 hinaus nicht verlängern wird.